"Befreie Deine Atmung und somit auch Dich!" | TMX Gastartikel (Part I)
Stress, körperliche Verspannung, zu flache und schnelle Atmung… ich denke, jede/r hat diese „Dreifaltigkeit der Gestresstheit“ schon einmal erlebt. Zumindest bei anderen! Denn interessanterweise können wir die Verhaltensmuster anderer Personen oft besser wahrnehmen als unsere eigenen, was es uns gleichzeitig leider unnötig erschwert, die Gegebenheiten zu verändern.
Doch warum ist das so? Und wie hängt alles miteinander zusammen?
Das soll im Folgenden genauer beleuchtet werden: Im ersten Teil dieses Wissensinputs werden die neurophysiologischen Hintergründe der Verbindung zwischen psychischem Stress, körperlicher Anspannung und einem verkrampften Atemmuster betrachtet.
Im zweiten Teil beleuchten wir, welche Methoden man anwenden kann, um diesen Anspannungen und Verkrampfungen effektiv und nachhaltig gegensteuern zu können.
TEIL 1: Atmung und myofaszialen Probleme – da gibt es einen Zusammenhang!
Unsere Atmung ist wichtig. Sogar sehr wichtig. Sie ist so wichtig, dass das Leben einen Weg gefunden hat, den Vorgang des Atmens überwiegend automatisiert ablaufen zu lassen. Vermutlich damit wir sie nicht versehentlich vergessen oder damit wir auch noch Zeit für spannendere Dinge haben als uns rein aufs Atmen zu konzentrieren. Unsere Atmung dient der permanenten Versorgung all unserer Zellen mit Energie aus dem eingeatmeten Sauerstoff, sodass sie ihre Funktionalität aufrecht erhalten können. Das aus der Verbrennung entstehende Kohlenstoffdioxid den Körper wieder verlassen, da es uns ansonsten ab einer bestimmten Dosis schaden würde. Daraus also ergibt sich die unbedingt überlebenswichtige Notwendigkeit der Atmung. Mal nichts zu essen oder zu trinken, das kann unser Körper kompensieren – mal nicht zu atmen nicht!
Doch die Tatsache allein, dass wir „ganz von selbst“ atmen, sagt noch nichts über die Qualität unseres Tuns aus. Unsere Atmung kann besser oder schlechter sein, genau wie unsere Haltung und unsere Bewegung besser oder schlechter sein können.
Außerdem hat unsere Atmung einen großen Einfluss darauf, ob wir körperlich leistungsfähig sind oder nicht, da sie die zentrale Funktion unserer kardiovaskulären Fitness darstellt. Wie fit wir sind, hängt nämlich von unserer maximalen Sauerstoffaufnahmekapazität (kurz: VO2max) auf der einen und unserer CO2-Toleranz auf der anderen Seite ab.
Unsere Atmung ist "manipulierbar"
Dass die Atmung automatisiert abläuft, stimmt natürlich nicht in vollem Umfang. Denn wir können sie beeinflussen und trainieren. Wir können sie beobachten oder sie auch bewusst verändern: verlängern, verkürzen, vertiefen, beschleunigen oder verlangsamen und natürlich anhalten. Sie ist also einerseits unbewusst reflektorisch durch tiefliegende, evolutionär ältere Gehirnregionen, wie dem Hirnstamm, gesteuert und andererseits mit „jüngeren“ Bereichen des Großhirns bewusst veränderbar. Außerdem spiegelt sie unseren emotionalen Zustand wieder: Auf eine Veränderung unserer Gefühle reagiert sie unmittelbar und wir können sie andersherum auch nutzen, um unsere Emotionen zu verstehen und zu beeinflussen. Die meisten Menschen wissen, dass die Atmung schneller, flacher und hektischer wird, wenn wir eine stressige Situation erleben, wir angespannt und nervös werden. Aber die Wenigsten sind sich darüber bewusst, dass eine chronische Stressatmung auch Ursache und Verstärker von permanenter ängstlicher Stimmung, Depressionen und Panikattacken sein kann.
"Da bleibt einem die Luft weg!"
Wenn wir längere Zeit psychisch-emotional belastenden Situationen ausgesetzt sind, gewöhnt sich unser Nervensystem sozusagen an diesen angespannten Dauerzustand. Wir fangen an, mehr durch unseren Mund zu atmen als durch die dafür eigentlich vorgesehene Nase und nutzen den oberen Brustkorb statt unseres Zwerchfells, um Platz für die Ausdehnung der Lunge zu schaffen. Die Nacken und Halsmuskulatur verspannt und unser Brustkorb samt Brustwirbelsäule wird steif. Es entstehen Störungen des natürlichen Atemrhythmus wie beispielsweise chronische Überatmung und unwillkürliche Apnoe. Viele kennen das unkontrollierte Luftanhalten aus der Welt der Schlafprobleme („Schlaf-Apnoe“) aber neuerdings nutzt die Wissenschaft auch den Begriff der „Email-Apnoe“, um das gleiche Phänomen zu beschreiben, aber während der Computerarbeit und nicht während des Schlafens auftritt. Die Menschen halten die Luft an, ohne es zu merken! Sie sind zu „kon-zentriert“, reißen sich also quasi zu ihrer Körpermitte hin zusammen und halten ihre Atmung dabei unbewusst an. Ihnen „bleibt die Luft weg“ und das gleich mehrmals pro Stunde. Darauf folgt meistens schwere Schnappatmung, um das Stoffaustausch-Problem auszugleichen. Ich als Sportwissenschaftler und Bewegungstherapeut sehe das gleiche häufig in der Praxis, wenn ich mit manchen Patient:Innen Kraftübungen mache. Es scheint also so etwas wie eine „parasitäre“ Anspannungsreaktion des zentralen Nervensystems auf Stressoren zu sein, die sich in unserem Atemmuster regelrecht einnisten kann. Das große Problem an der Sache: die meisten Menschen merken nicht, dass sie gestresst sind, geschweige denn, dass sie schlecht atmen. Sie haben auch keine offensichtlichen Probleme, Luft zu bekommen. Dennoch ist ihr vegetatives Nervensystem sympathikoton übersteuert.
Balance ist das A und O
„Our breathing reflects every emotional and physical effort and every disturbance. [...] It is therefore also sensitive to the vegetative processes.“ (M. Feldenkrais)
Das zentrale Nervensystem aktiviert aufgrund von als bedrohlich bewerteten Signalen aus der Umwelt und dem eigenen Körper die Notfall-Reaktionen des Körpers. Als ein Hauptakteur ist hierbei die Inselrinde (Cortex insularis/Insula) im Zusammenspiel mit dem Hirnstamm und dem limbischen System zu nennen, die als Integrationszentrum verschiedenster Reize daran beteiligt ist, die Balance von Sympathikus (Aktivierung) und Parasympathikus (Entspannung) entsprechend der wahrgenommenen Situation zu steuern. Normalerweise dient dies (evolutionär) der Handlungsbereitschaft des Organismus in gefährlichen Situationen und ist deshalb überlebenswichtig und gut. Ohne sympathische Aktivität könnten wir z.B. weder vor einem Raubtier fliehen, noch einen Angreifer bekämpfen, noch eine gute Figur auf dem Sportplatz machen... Allerdings gestaltet sich das Bild deutlich anders, wenn eine dauerhafte Übersteuerung stattfindet: Man spricht dann von vegetativer Dystonie bzw. autonomer Dysregulation, einer fehlregulierten Spannung des vegetativen Nervensystems, das für die autonom ablaufenden überlebenswichtigen Funktionen des Körpers zuständig ist. Die daraus entstehenden funktionellen Syndrome können sich symptomatisch dementsprechend vielfältig äußern: Im Falle der erhöhten sympathischen Aktivität leiden Betroffene z.B. unter Nervosität und nassen Händen, emotionaler Gereiztheit, chronischer Hyperventilation, hohem Blutdruck, Herzrasen, Kopfschmerzen, Verdauungsproblemen (Reizmagen, -darm, -blase), Schwindel, unspezifischen körperlichen Schmerzen und nicht zuletzt einem übermäßig und dauerhaft verspannten myofaszialen System. Die Muskeln empfangen dabei eine erhöhte Erregungsleitung aus den Nervenfasern, die in den Tiefen der faszialen Septen eine Ausschüttung von Stress- und Wachstumshormonen auslösen. Nach und nach verfestigen sich die Strukturen, sodass hier von einer Fibrotisierung des Bindegewebes gesprochen wird. Die Strukturen werden unnachgiebig und fest, „verkleben“ quasi und hindern die natürliche Bewegungsfähigkeit. Da dies wiederum durch unser Nervensystem wahrgenommen wird, liegt hier eine der Hauptursachen myofaszialer Schmerzen.
Natürlich treten nicht immer alle Symptome wie oben aufgezählt auf und in vielen Fällen wird es keine Diagnose geben. Nichtsdestotrotz bekommt man eine Idee, wie global ein anhaltender Distress sich im gesamten System Mensch äußern kann. Die falsche Atmung alleine wird in den meisten Fällen nicht der einzige Grund sein, sondern es braucht ein komplexes Zusammenspiel verschiedener biopsychosozialer Stressfaktoren für eine solch umfassende Übersteuerung. Dennoch ist eine dauerhaft unphysiologische Atmung ein zentraler Faktor für die Auslösung der chronischen Stressantwort des Körpers. Aber das Gute daran ist: Wir können unsere Atmung genau so gut nutzen, um "den Karren aus dem Dreck zu ziehen".
Wie genau wir unsere Atmung verbessern können, wird im Folgeartikel "Und jetzt Durchatmen – aber richtig!" beleuchtet. Freut auf drauf!
Und wo wir schon beim Thema sind: TMX wird bald eine ganz neue, innovative Atemausbildung anbieten – "TMX Free your breath". Seid gespannt :-)
Sportliche Grüße
Euer Jan
Zum Autor:
Jan Kulmann ist Sportwissenschaftler, Functional Myofascial Trainer, Feldenkrais-Lehrer, Rückentrainer, Funktionelle Sportmassage, Intense Yoga Basic, Spezialist für neurozentriertes Training und TMX MASTER. Zudem ist er zertifizierter Kursleiter für die TMX HOLISTIC MOVEMENT Ausbildung.